Der Bescheidwisser

No sleep till Bruneck

Posted in Südtirol, Spocht by bescheidwisser on 15. August 2015

Im Schatten der Dolomiten liegt ein weniger bekanntes, aber wunderschönes Gebirge: die Pfunderer Berge. Sie sind nicht sonderlich hoch, die höchste Erhebung misst nur 3135 Meter, aber sie sind steil, wild und einsam. Ich mag sie besonders gern: die Vielfalt der Grüntöne, die schroffen Felsabstürze, die zackigen Konturen der Kämme. Das ist für mich das Gebirge aus »Herr der Ringe«.

Längs hindurch führt der Pfunderer Höhenweg. Er beginnt in Sterzing am Fuß des Brenners und endet ein paar Meter von meiner Südtiroler Wohnung in St. Georgen, einer Fraktion von Bruneck. Vor ein paar Monaten fassten Andreas, ein Brunecker Freund, der auch gern in den Bergen herumrennt, und ich den Plan, den Höhenweg zu laufen. Zuerst peilten wir zwei Etappen an. Dann schlug ich vor, den Weg am Stück zu laufen. Andreas willigte zögernd ein.

Wir wussten: das wird kein Jog im Park. Wanderer gehen den Höhenweg üblicherweise in sechs Tagen. Vor Jahren bin ihn mit meiner damaligen Freundin in fünf Etappen gegangen. »Sehr fitte Bergsteiger« können es in vier Etappen schaffen, steht in einem Führer. Im Internet findet man ein paar Laufberichte vom Pfunderer Höhenweg, aber ich habe nur welche gefunden, bei denen entweder in mehreren Etappen gelaufen wurde – oder vorzeitig abgebrochen. Im Jahr 2011 haben Thomas Bohne und Denis Wischniewski vom Trail Magazin nach gut der Hälfte aufgehört. Von Südtirolern hatte ich aber gehört, dass der Weg manchmal durchgelaufen wird.

Es war also möglich, aber es war sehr fraglich, ob wir es bis zum Ende schaffen. Dieses Risiko machte uns nichts aus. Dann biegen wir eben ins Pustertal ab und nehmen Bahn, sagten wir uns. Wir bereiteten uns gut vor, studierten die Karten, kalkulierten einen Zeitplan, konsultierten das Hydrographische Amt in Bozen für eine Wetterprognose – und nahmen dabei das Vorhaben immer als Abenteuer mit ungewissem Ausgang. Einfach loslaufen und schauen, wie weit wir kommen.

Und so stiegen wir an einem herrlichen Augustabend in Bruneck in den Zug, kamen um 21:32 Uhr in Sterzing an, setzten die Stirnlampen auf und trabten in bester Laune bergwärts. Keiner von uns war je lang durch die Nacht gelaufen. Und was für eine Nacht war das! Mild und klar – und der Höhepunkt des Meteoritenschwarms der Perseiden. Nachts durchs Gebirge laufen unter einem Sternenhimmel, durch den die Sternschnuppen schwirren: diese Stunden werde ich nie vergessen.

Der Höhenweg beginnt mit einem Aufstieg von über 1000 Höhenmetern über die waldigen Hänge des Auersbergs, durch die sich ein Gewirr von Wegen zieht. Da ist Verlaufen vorprogrammiert, vor allem nachts. Wir taten es mehrmals, fanden aber dank GPS-Uhr stets nach kurzer Zeit auf die Route zurück. Ohne GPS wären wir schon in den ersten Stunden in ernste Schwierigkeiten gekommen.

So aber kamen wir planmäßig um zwei Uhr zur schlafenden Simile-Mahd-Alm, dem ersten Etappenziel der meisten Wanderer. Sollte ich den Höhenweg nochmal laufen, dann würde ich hier die Route ändern: nicht über die Alm, denn das ist nur sinnvoll, wenn man dort übernachten will, sondern die natürlichere Route weiter am Kamm entlang über den Sengesspitz, die (geschlossene) Sterzinger Hütte und das Sandjoch.

Von der Alm liefen wir weiter aufs 2660 m hohe Sengesjöchl – ich immer noch im ärmellosen Unterhemd. Von dort quert der Weg zwischen der Wilden Kreuzspitze und dem Wilden See zum Rauhtaljoch, mit 2807 Metern der höchste Punkt des Höhenwegs. Bei Tageslicht ist die Orientierung in diesem Abschnitt sicherlich ein Kinderspiel. Doch wenn die Sicht auf den Lichtkegel der Stirnlampe beschränkt ist, landet man in den schottrigen Steilhängen voller Pfadspuren und Verhauerwege schnell im Nirgendwo. Dazu kommt, dass der Weg vor dem Rauhtaljoch sehr unintuitiv ein Stück Richtung Kreuzspitze führt, um dann von oben aufs Joch zu stoßen. Wir brauchten ein paar Minuten und einige Ampèresekunden Stirnlampen-Aufblendlicht, um das zu kapieren.

Am Rauhtaljoch traf uns die Morgendämmerung. Im zarten Rot zeichneten sich die Silhoutten der Berge ab, dann ließen die ersten Sonnenstrahlen die grünen Hänge aufleuchten. Wir setzten uns nieder und verfolgten dieses Schauspiel, bevor wir hinunter zur Brixner Hütte liefen. Um sechs Uhr erreichten wir sie. Gerade wurde zum Frühstück aufgedeckt, von oben hörte man die Schritte der ersten erwachten Hüttengäste. Wir stärkten uns mit Kaffee, Tee, Brot und Speck für den schwierigsten Abschnitt des Wegs, von der Brixner Hütte zur Edelrauthütte. Weite Blockhalden und hohe Scharten durch scharfe Grate. Gehzeit: 9 Stunden.

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Auf der Steinkarscharte

Die Steinkarscharte ist noch zahm und grün, die Kellerscharte schon etwas ruppiger. Von dort überblickt man den Halbkessel des Engbergs mit seinen Schrofen, Schuttreißen und Felsabstürzen und denkt sich: unmöglich, dass da ein Weg durchführt. Aber ja, da führt er durch. Zuerst sogar abschnittsweise laufbar. Dann muss man sich in luftiger Höhe an einem Felswändchen vorbeischmiegen. Man gelangt auf die Dannelscharte, wo sich eine Perspektive mit hohem Demoralisierungspotenzial öffnet: auf das Weißsteinkar, ein riesiges Becken voller Felsbrocken. Der Weg führt mittendurch, wobei »Weg« hier keine treffende Bezeichnung ist. Es ist nichts als eine Kette von Markierungen durch den Felsverhau. Das bedeutet, stundenlang von Block zu Block hüpfen zu müssen. Anfangs ganz spaßig, wenn man noch frisch ist. Aber das bleibt man nicht lang. Wir wurden langsamer. Mitten im Weißsteinkar erklärte Andreas mir, er stecke in einem körperlichen Tief, aus dem er wohl nicht mehr herauskommen könne. Er schlug vor, ich solle in einem Tempo weiterlaufen, das mir die Möglichkeit offen hält, den ganzen Weg zu schaffen. Er werde langsam aber sicher zur Edelrauthütte gehen und von dort zum Neves-Stausee absteigen. Trennen also – zuerst lehnte ich ab. Am Berg bleibt man zusammen. Aber es war dann nicht so schwierig für Andreas, mich doch noch zu überzeugen. Ich wollte den Versuch, den Weg durchzulaufen, hier noch nicht beenden. Ich fühlte mich noch gut. Wir verabschiedeten uns. Andreas kam gut ins Tal.

Durchs Weißsteinkar und über einen kurzen, steilen Aufschwung gelangt man zur aberwitzigen Gaisscharte, einer unten nur fußbreiten Aussparung in der Felsklinge zwischen Hockwart und Magsteinwipfel. Man zwängt sich durch und erwartet fast, dahinter ins Nichts zu stürzen. Stattdessen warten dort 40 Höhenmeter abwärts an einer fast senkrechten Felswand, gesichert mit Ketten und Stahlbügeln. Wer nicht schwindelfrei ist, muss womöglich durchs Weißsteinkar zurück. Aber auch für Schwindelfreie ist der Blick durch die Gaisscharte schockierend. Auf der anderen Seite wartet nämlich die nächste Blockhalde, das Obervalskar. Und wer glaubt, mehr Felsblöcke könne ein Gebirge nicht enthalten, und sich auf dem folgenden Wiesenbuckel schon auf die Hütte freut, der irrt. Die paar Meter laufbarer Weg täuschen. Hinter dem Buckel liegt schon wieder eine Blockhalde. Kleiner zwar, aber sie nervt.

In der Edelrauthütte wollte ich eigentlich zu Mittag essen, doch dieser Plan scheiterte an den zahlreichen italienischen Touristen, die zum Ferragosto-Wochenende die Südtiroler Berge bevölkern. Der Pfunderer Höhenweg ist sehr wenig begangen, auf ihm kann auch in der Hochsaison einen halben Tag verbringen, ohne einem Menschen zu begegnen. Aber in der bequem erreichbaren Edelrauthütte und drumherum ging es zu wie in einem Wespennest. Die Italiener standen Schlange, um einen Tisch zu bekommen. Ich kaufte mir ein paar Süßigkeiten, verspeiste sie vor der Hütte, füllte meine Softflasks am Brunnen auf und suchte das Weite.

Nun kam der Teil des Höhenwegs, den Andreas und ich als Team beim Tiefroschtn-X-trem-Lauf 2014 gelaufen waren: das Eisbruggtal hinunter, dann steil empor zur Kuhscharte, wo der lieblichste Abschnitt des Höhenwegs beginnt. Er führt mehrere Kilometer in sanftem Auf und Ab durch steile Almwiesen, von denen an diesem Tag einige frisch gemäht waren. Es duftete nach Heu, die Sonne wärmte mich, der Wind streichelte mich. Entspannt und zuversichtlich lief ich dahin. Es kam mir so vor, als könnte ich ewig weiterlaufen. Die Hochstimmung endete am Anstieg von der Gampisalm (2223 m) zur Hochsägescharte (2705 m), den ich noch vom Tiefroschtn X-trem in schlechter Erinnerung hatte. Der Anstieg hat zwei Teile, der erste ist steil und zertrampelt von Kühen, der zweite ist steiler und übersät von Blockwerk, von dem ich zu diesem Zeitpunkt wirklich genug hatte. Ich fand keinen Rhythmus mehr. Noch steiler und arg rutschig ist der Abstieg auf der anderen Seite. Immerhin brachte er mich zur hervorragend geführten Tiefrastenhütte (AVS), deren Wirtin mir eine gute Käseplatte und eine große Cola vorsetzte und mich fragte, woher ich komme und wohin ich wolle. Ich sagte ihr nicht, dass ich bei ihr eingekehrt war, um in Ruhe zu überlegen, ob ich die Aktion hier beenden und runter nach Terenten laufen soll. Den ganzen Höhenweg durchlaufen? Das versuchen einige, sagte sie, schaffen aber nur wenige. Von denen, die bis zur Tiefrastenhütte kommen, brächen die meisten dort ab. Falls sie mich abschrecken wollte, hätte sie diese Geschichten besser nicht erzählt. Ich beschloss, weiterzulaufen.

An der Tiefrastenhütte beginnt für Wanderer die letzte und längste Tagesetappe des Pfunderer Höhenwegs. Zuerst verliert man 300 Höhenmeter, um dann 400 Höhenmeter zum Kleinen Tor aufsteigen zu müssen. Von dort führt der Weg immer entlang eines breiten Rückens von Gipfel zu Gipfel. Es ist eine der schönsten Passagen des ganzen Wegs, vielleicht die schönste. Links sieht man die schneebedeckten Gipfel der Zillertaler Alpen. Rechts die im Abendlicht glühenden Dolomiten. Leider verdunkelte sich dieses herrliche Panorama zusehends. Der Sonnenuntergang nahte. Ich wollte mich beeilen, um noch bei Helligkeit den Sambock zu erreichen, den letzten Gipfel des Rückens. Aber die Beine wurden schwer. An manchen der Gipfel muss man nochmals kraxeln. Der Sambock kam und kam nicht näher. Deutlich vor ihm musste ich die Stirnlampe wieder auspacken. Zwar ist der Weg in diesem Abschnitt gut markiert, aber dennoch bremste mich die erschwerte Orientierung im Dunkeln mit müdem Kopf noch weiter. Ich stellte mich auf eine mühsame Schlussphase ein, aß und trank nochmals.

Zum Sambock muss man über dessen ruppigen, stellenweise mit Stahlketten versicherten Nordgrat. Bei Helligkeit ist es eine muntere Kletterei. Im Dunkeln ist es mühsam. Fluchend schob und zog ich mich die Felsen hoch. Noch mehr Sorgen bereitete mir allerdings der bevorstehende Abstieg: 1500 Höhenmeter steil hinab vom Sambock nach St. Georgen auf entkräfteten Beinen. Das würde wehtun, befürchtete ich.

Und es tat dann auch weh, bei jedem Schritt. Ich stolperte, ich schlitterte, erstaunlicherweise fiel ich nicht hin. Beim Gasthaus am Kofl (1487 m) ist man zurück in der Zivilisation, man könnte den Höhenweg getrost für bewältigt erklären und sich abholen lassen. Aber ich stellte mir vor, dass jetzt alle gemütlich beim Wein sitzen, und scheute mich, jemanden mit der Bitte um diesen Gefallen anzurufen. Am Brunnen beim Kofler setzte ich mich hin und aß noch einen Riegel für die letzten 600 negativen Höhenmeter. Laufen ging nun kaum mehr, ich wanderte fast nur noch. Im Licht der Stirnlampe versammelten sich die Fluginsekten. Nachtfalter klatschten mir ins Gesicht, Käfer flogen mir ins Ohr, Mücken saugten mir das Blut aus den Waden. Ich wollte nur noch nach Hause, und als ich endlich, nach 24 Stunden auf den Beinen, dort ankam, wollte ich gar nichts mehr. Ich war zu müde, um Hunger zu haben. Ich war zu aufgeputscht, um zu schlafen. Erst am nächsten Tag konnte ich mich freuen, den Pfunderer Höhenweg gemeistert zu haben.

Der Pfunderer Höhenweg ist tückisch für Läufer. Man unterschätzt ihn leicht. 72 Kilometer und über 5600 positive Höhenmeter, das klingt ordentlich, aber für geübte Langstreckenläufer nach durchaus nicht zu viel auf einmal. Doch hinter den Zahlen verstecken sich Kletterpassagen, Blockwerk und weglose Passagen, auf denen man von einer Markierung zur nächsten irrt. Das kostet viel Zeit und Kraft, besonders dann, wenn man nicht darauf gefasst ist. Wir waren darauf gefasst und haben es trotzdem unterschätzt. Der »Pfunderer« ist ein Biest. Aber ich liebe ihn. Im Nachhinein.

Tobias Hürter


Ausrüstung:
Schuhe: Inov-8 Race Ultra 270
Socken: Injinji Trail 2.0
Hose: Inov-8 Race Ultra Twin Short
Unterhemd: Falke Athletic
Shirt: Pearl Izumi
Windweste: Montura mit Quickburst-Reißverschluss
Rucksack: Salomon S-Lab 12
Stöcke: Leki Microstick Carbon
Stirnlampe: Lupine Piko X Pro (2011) mit Smartcore-Akku 5,6 Ah
Uhr: Suunto Ambit 3 Peak
Verpflegung: Wasser aus Bächen, Riegel und Gels von Mulebar, Saltsticks und aus den Küchen von Brixner Hütte, Edelrauthütte und Tiefrastenhütte